Brief an die anarchistische Galaxie
Ohne Einladung, dringen wir mit diesem Brief in eine Debatte ein, die nicht die unsere ist. Eine Debatte, die nie die unsere sein wird, da sie sich auf einem Terrain abspielt, das uns für die Suche nach aufständischen Perspektiven und damit einhergehenden anarchistischen Ideen und Aktivitäten unfruchtbar scheint. Aber wieso dann, könnte man sich fragen, einen solchen Brief verfassen? Weil es nichts gibt, das unsere Herzen mehr erwärmt, als die befreiende und zerstörende Revolte, als der Kampf für die Subversion des Bestehenden; weil wir uns weiterhin immer in allen Gefährten wiedererkennen werden, die, angetrieben von einem Verlangen nach Freiheit, zum Angriff auf die Strukturen und Menschen der Herrschaft übergehen; weil wir der Kraft des individuellen Willens, der Suche nach Kohärenz und dem Mut, der trotz allem das Feuer an die Lunte zu legen versucht, einen unendlich grossen Wert beimessen. Betrachtet diese Bemerkungen also nicht als einen vergeblichen Versuch, gefällig zu sein; sie sind ehrlich, ebenso wie unsere Besorgnis angesichts der willentlichen Verstümmelung des anarchistischen Kampffeldes.
Lasst uns kein Blatt vor den Mund nehmen: die zerstörerische Intervention der Anarchisten braucht es mehr denn je, und mehr denn je ist heute der Moment, unsere Kämpfe zu intensivieren, uns auf die Suche nach Möglichkeiten und Hypothesen zu machen, die die Revolte ausweiten, den Aufstand möglich machen und somit die Möglichkeit vorantreiben könnten, diese Welt umzuwälzen. Doch dieser Bedarf und dieser Antrieb entheben uns nicht der Notwendigkeit, über das Was, Wo, Wann, Wie und Wieso nachzudenken.
Kommen wir gleich auf den Punkt: welche Beweggründe treiben Anarchisten dazu an (wohl bemerkt, dass sie bei den Autoritären unschwer zu erkennen sind), ihre Aktionen systematisch zu bekennen und sie mit mittlerweile global gewordenen Sigeln zu unterzeichnen? Was macht sie glauben, die schwierige Frage der Perspektiven durch ein ins Internet gestelltes oder den Medien zugeschicktes Bekennerschreiben lösen zu können? Was treibt sie dazu an, zu glauben, dass sich heute auf einen solchen Weg zu begeben mit einer tiefen Form von Kohärenz zwischen Denken und Handeln, zwischen Ideen und Praktiken verbunden sei, während es sich dabei vielmehr um eine illusorische Auflösung der permanenten Spannung zwischen Theorie und Praxis handelt, jener Spannung, die da sein müsste und die die antreibende Kraft hinter dem anarchistischen Kampf ist?
Diese Manie, die lawinenartig anzuwachsen scheint, läuft schnell Gefahr, die anderen Akte der Revolte in den Schatten zu stellen. Nicht nur die Akte der Anarchisten, die mit Freude ohne die bittere Pille auskommen und über die Bekennerschreiben stets enttäuscht sind, sondern auch und vielleicht vor allem allgemeiner das ganze Panorama von Rebellionen und sozialer Konfliktualität. Dies ist einer der „Gründe“, die uns antrieben, diesen Text zu verfassen. Wir haben es satt, die Tatsache hinzunehmen und immer öfters feststellen zu müssen, dass das anarchistische Kampffeld, jenes des Angriffs, der Sabotage und der Enteignung mit einem Kennzeichen und, als solches, mit einer politischen Repräsentation gleichgesetzt wird; wir haben genug davon, zu sehen, wie sich die Horizonte fälschlicherweise auf zwei Entscheidungen beschränken, die einander scheinbar gegenüberstehen: entweder man entscheidet sich für den „lieben“ Anarchismus und rennt den Vollversammlungen, den sozialen Bewegungen und den Basisgewerkschaften hinterher, oder man wählt den „bösen“ Anarchismus und ist somit freundlich gebeten, seine Beiträge zum sozialen Krieg mit einem Sigel zu versehen – und falls nicht, werden es andere an unserer Stelle tun.
Denn auch wir gehen zum Angriff über. Auch wir ziehen los, um die Maschinerie des Kapitals und der Autorität zu sabotieren. Auch wir entscheiden uns täglich, keine Bettlerposition zu akzeptieren und die notwendige Enteignung nicht zu vertagen. Nur denken wir, dass unsere Aktivitäten schlicht Teil einer breiteren sozialen Konfliktualität ausmachen, einer Konfliktualität, die weder Bekennerschreiben noch Sigel braucht. Nur denken wir, dass ein Akt nur einem jeden gehören kann, wenn er anonym ist. Nur denken wir, dass den Angriffsaktionen einen Stempel aufzudrücken, sie vom sozialen Feld ins politische Feld katapultiert, ins Feld der Repräsentation, der Delegation, der Trennung zwischen Akteuren und Zuschauern. Und, wie es in solchen Debatten schon oft wiederholt wurde, genügt es nicht, die Zurückweisung der Politik zu proklamieren, damit es auch wirklich so ist. Die Zurückweisung der Politik findet sich unter anderem in der Kohärenz zwischen Mitteln und Zwecken, und es gibt kein politischeres Instrument als das Bekennerschreiben, so wie es auch die Mitgliederkarte, das Programm und die Grundsatzerklärung sind.
Wir sehen ausserdem auch, wie eine Verwirrung um sich greift, die wir einmal mehr unterstreichen und bekämpfen wollen. Denn es dreht uns den Magen um, weiterhin die Bedeutungen zu akzeptieren, die gegenwärtig gewissen Konzepten wie beispielsweise der Informalität gegeben werden. Die Entscheidung für eine informelle und autonome anarchistische Bewegung bedeutet die Zurückweisung von starren Strukturen, von formellen Organisationen, von zentralisierenden und vereinheitlichenden Föderationen; also auch von sich wiederholenden Markenzeichen, wenn nicht von jeglichen Markenzeichen. Es ist die Weigerung, Programme aufzustellen, es ist die Verbannung aller politischen Mittel; und somit auch der programmatischen Bekennerschreiben, egal ob sie sich nun selbst digital als formell oder eher als „informell“ definieren. Im positiven Sinne ist die Informalität für uns ein grenzenloses und unbeschränktes Archipel aus autonomen Gruppen und autonomen Individuen, die die auf Affinität und gegenseitiger Kenntnis basierenden Verbindungen unter sich verfestigen und auf diesen Grundlagen entscheiden, gemeinsame Projekte zu realisieren. Es ist die Entscheidung für kleine Affinitätskreise, die aus ihrer Autonomie, ihrer Perspektive und ihren Aktionsmethoden die Grundlage machen, um Verbindungen mit anderen aufzubauen. Die informelle Organisation hat also nichts mit Föderationen, Akronymen und Sigeln zu tun. Aber was treibt dann einige Gefährten dazu an, nicht nur von Informalität, sonder auch von „Insurrektionalismus“ zu sprechen? Auf die Gefahr hin, das breite Panorama von Ideen, Analysen, Hypothesen und Vorschlägen zu schmälern, könnte man den „Insurrektionalismus“ als die Gesamtheit der Methoden und Perspektiven definieren, die ausgehend von einem kompromisslosen Anarchismus versuchen, zu „aufständischen Situationen“ beizutragen. Das Arsenal an Methoden, über die die Anarchisten verfügen ist enorm. Es ist wichtig, zu verstehen, dass der Gebrauch von gewissen Methoden (Agitation, Angriff, organisatiorische Vorschläge, etc.) an und für sich sehr wenig bedeutet: erst in einer überlegten und sich in Entwicklung befindlichen Projektualität erhalten sie ihre Bedeutung im Kampf. Ein Gebäude des Staates niederzubrennen ist immer etwas gutes, doch an sich bedeutet es nicht, dass das in einer aufständischen Perspektive steht. Und dies gilt noch weniger, wenn die Angriffe mit einer einhergehenden Glaubensbekenntnis gegen zentrale und medienwirksame Ziele gerichtet sind. Es ist kein Zufall, wenn in den verschiedenen Momenten von aufständischen Projektualitäten der Nachdruck vor allem auf anspruchslose, reproduzierbare und anonyme Angriffe gegen die eher peripheren Strukturen und Menschen der Herrschaft oder auf die Notwendigkeit der gezielten Sabotage von Infrastrukturen gelegt wurde, Sabotage, die überhaupt kein mediales Echo braucht, um ihr Ziel zu erreichen, wie beispielsweise die Lahmlegung der Transport-, Daten oder Energieflüsse der Macht.
Es scheint uns, dass sich hinter der gegenwärtigen Bekennerschreibenmanie nicht allzu viele Perspektiven verbergen – oder zumindest fällt es uns schwer, sie zu erkennen. Im Grunde scheint es, und damit beabsichtigen wir in keinster Weise der ehrlichen und mutigen Rebellion dieser Gefährten irgendetwas abzusprechen, dass es vor allem die Anerkennung ist, die gesucht wird. Eine Anerkennung von Seiten des Feindes, der seine Liste der terroristischen Organisationen schnell ergänzen wird, ist oft der Anfang vom Ende: der Feind macht sich also daran, einen Teil der breiteren Konfliktualität zu isolieren. Eine Isolierung, die nicht nur ein Vorzeichen der Repression ist (das wäre noch das geringste, schliesslich ist die Repression immer präsent – es liegt uns fern, darüber zu jammern, dass die Macht die Aktivitäten der Anarchisten verfolgt), sondern vor allem, und dies ist der wichtigste Aspekt, die beste Art ist, um eine potenzielle Ansteckung zu verhindern. Im aktuellen Stadium des Gesellschaftskörpers, der krank und faulend ist, kann sich die Macht nichts besseres Wünschen als ein gut erkennbares und konturiertes Messer, das hier und da etwas einzuschneiden versucht, doch es gibt nichts, dass sie mehr fürchtet, als ein Virus, der Gefahr läuft, den ganzen Körper auf unbegreifliche und folglich unkontrollierbare Weise anzustecken. Oder vielleicht irren wir uns ja und es geht um eine Anerkennung von Seiten der Ausgebeuteten und Ausgeschlossenen? Aber sind nicht eben wir, die Anarchisten, Feinde jeglicher Form von Delegation, von erleuchteten Beispielen, die oft nichts anderes tun, als die eigene Resignation zu legitimieren? Gewiss können unsere Praktiken ansteckend sein, unsere Ideen übrigens noch viel mehr, aber nur, wenn wir die Verantwortung zu handeln auf jedes einzelne Individuum separat legen; wenn wir die Resignation als eine individuelle Entscheidung entlarven. Wir können die Herzen entflammen, gewiss, aber wenn sie nicht über den Sauerstoff einer eigenen Überzeugung verfügen, werden sie schnell ersticken und, im „besten“ Falle, folgt daraus etwas Applaus für die werdenden Märtyrer. Gerade jetzt, da sich die politische Vermittlung (Parteien, Gewerkschaften, Reformismus) Stück für Stück erschöpft hat und im Grunde zurückgelassen wurde; jetzt, da die Wut die Hände frei nach all dem ausstrecken kann, was das Leben zerstört, wäre es wirklich der Gipfel, wenn die Un-unterworfenen der Politik par excellance, die Anarchisten, die Fackel der Representation wieder aufnehmen und, dem Beispiel der vorangegangenen Autoritären folgend, die soziale Konfliktualität von der unmittelbaren Subversion aller sozialen Rollen trennen würden. Und es ist dabei relativ unwichtig, ob sie dies tun wollen, indem sie sich an den Kopf von sozialen Bewegungen stellen, sie mit der der Rethorik der Volksvollversammlungen mitreissend, oder als spezifische bewaffnete Gruppe.
Oder geht es um ein Streben nach „Kohärenz“? Unglücklicherweise gibt es seit jeher Anarchisten, die die Suche nach Kohärenz gegen taktische Abkommen, widerliche Allianzen und strategische Trennungen zwischen den Mitteln und den Zwecken eintauschen. Eine anarchistische Kohärenz findet sich, unter anderem, gewiss in der Negation von all dem. Doch damit ist nicht gesagt, dass zum Beispiel ein „Klandestinitäts“-Verhältnis kohärenter sei. Wenn die Klandestinität nicht mehr als eine Notwendigkeit, aufgrund der repressiven Jagd oder weil es ansonsten unmöglich wäre, gewisse Aktionen zu realisieren, sondern vielmehr als eine Art Spitze der revolutionären Aktivität betrachtet wird, bleibt nicht mehr viel übrig vom berühmten A-Legalismus. Anstatt die Kohärenz jenseits der Gesetze und Befehle zu suchen und folglich die Konfrontation zu akzeptieren, wird der Legalismus schlicht zu einem „Illegalismus“ umgedreht, bei welchem, ebenso wie im Legalismus, der subversive Charakter der Aktivitäten durch die entsprechende potenzielle Gefängnisstrafe quantifiziert und bemessen wird. Die Zurückweisung des Legalismus ist nicht dasselbe wie die absolute Entscheidung für den Illegalismus. Es würde bereits genügen, einen einfachen Vergleich mit der sozialen Situation in Europa zu ziehen, um sich ein Bild davon zu machen: nur weil sich tausende Menschen de facto in einer Situation von „Klandestinität“ befinden (die Sans-Papiers), ist es dennoch nicht so, dass sie automatisch und objektiv zu einer Bedrohung für den Legalismus werden und somit als „revolutionäre Subjekte“ betrachtet werden können. Wieso sollte das für die Anarchisten anders sein, die sich in einer Situation der Klandestinität befinden?
Oder vielleicht geht es darum, dem Feind Angst zu machen? Wie man in den Bekennerschreiben oft genug sehen kann, gibt es scheinbar Anarchisten, die glauben, der Macht Angst machen zu können, indem sie Drohungen aussprechen, Fotos von Waffen publizieren oder einige Bomben explodieren lassen (und wir sprechen noch nicht einmal von der niederträchtigen Praxis, aufs geratewohl Packetbomben zu verschicken). Gegenüber den von der Macht organisierten, alltäglichen Massakern, zeugt dies von einer besonderen Naivität, vor allem für die Feinde der Macht, die sich keine Illusionen über verständnisvollere Machthaber, einen Kapitalismus mit menschlichem Gesicht oder korrektere Verhältnisse im Innern des Systems machen. Wenn die Macht, trotz all ihrer Arroganz, etwas fürchtet, dann zweifellos die Verbreitung der Revolte, die Streuung der Ununterworfenheit, die Herzen, die sich ausserhalb jeglicher Kontrolle entflammen. Und es ist klar, dass die Blitze der Repression die Anarchisten, die dazu beitragen wollen, durchaus nicht verschonen, doch dies zeugt in keinster Weise davon, wie „gefährlich“ wir sind. Das einzige, was dies vielleicht sagen will, ist, wie gefährlich es wäre, wenn sich unsere Ideen und Praktiken unter den Ausgeschlossenen und Ausgebeuteten verbreiten würden.
Es verwundert uns also noch immer, wie sehr die Idee einer Art Schatten, die Anarchisten von heute nicht mehr zu verlocken scheint, zumindest nicht jene, die weder resignieren, noch in einer Wartehaltung verbleiben oder bis in alle Ewigkeiten Massenorganisationen aufbauen wollen. Einst waren wir stolz darauf: all unser mögliches zu tun, um den Sumpf der sozialen Konfliktualität auszuweiten und ihn somit für die Kräfte der Repression und der Rekuperation unzugänglich zu machen. Wir waren weder auf der Suche nach den Scheinwerfern der Öffentlichkeit, noch nach dem Ruhm der Krieger; im Schatten, im verborgenen Teil der Gesellschaft leisteten wir unseren eigenen Beitrag zur Störung der Normalität, zur anonymen Zerstörung der Strukturen der Kontrolle und der Repression, zur „Befreiung“ durch die Sabotierung des Raumes und der Zeit, um dafür zu sorgen, dass die sozialen Revolten ihrem Lauf folgen können. Und mit Stolz verbreiteten wir diese Ideen, auf autonome Weise, ohne uns auf Medienechos zu beziehen, fern vom politischen Spektakel, und sei es jenes der „Opposition“. Eine Agitation, die nicht danach verlangte, gefilmt zu werden, anerkannt zu werden, sondern vor allem zur Rebellion ermutigen und, in dieser geteilten Revolte, Verbindungen mit anderen Rebellen knüpfen wollte.
Heute scheinen viele Gefährten die einfache Lösung einer Identität der Verbreitung der Ideen und der Revolte vorzuziehen und reduzieren somit beispielsweise die Affinitätsbeziehungen auf den Beitritt zu irgendeiner Sache. Offensichtlich ist es einfacher, vorgefertigte Meinungen aus den Regalen des militanten Supermarktes zu nehmen und zu konsumieren, als einen eigenen Weg des Kampfes zu entwickeln, der mit all dem bricht. Offensichtlich ist es einfacher, sich durch ein geteiltes Sigel eine Illusion von Stärke zu geben, als zu verstehen, dass sich die „Stärke“ der Subversion im Ausmass und in den Art und Weisen verbirgt, auf die es ihr gelingt, den sozialen Körper mit befreienden Ideen und Praktiken anzustecken. Die Identität und die „Bildung einer Front“ bieten vielleicht die süsse Illusion, etwas zu bedeuten, vor allem im Spektakel der Kommunikationstechnologien, zerstören aber nicht das geringste Hindernis. Schlimmer noch, es weist alle Symptome einer wenig anarchistischen Sicht auf den Kampf und die Revolution auf, einer Sicht, die glaubt, gegenüber dem Koloss der Macht, auf symetrische Weise, einen illusorischen anarchistischen Koloss ins Feld führen zu können. Die unweigerliche Konsequenz davon sind ein sich schliesslich auf eine ziemlich uninteressante Nabelschau verengender Horizont, hier und da einige Schläge über den Rücken und die Konstruktion eines ausschliessenden, autoreferenziellen Milieues.
Es würde uns nicht erstaunen, wenn diese Manie die autonome anarchistische Bewegung noch mehr lähmen würde, in dem Moment, in dem es darum geht, den immer häufigeren, spontanen und zerstörerischen Revolten unseren Beitrag zu geben. Eingeschlossen in der Selbstpromotion und der Selbstreferenz, mit einer auf die Publizierung von Bekennerschreiben im Internet reduzierten Kommunikation, scheint es nicht, dass die Anarchisten zu grossen Dingern fähig sein werden, wenn die Unruhen gleich neben uns ausbrechen (abgesehen von den üblichen paar Explosionen und Brandstiftungen, oft gegen Ziele, die die Revoltierenden bereits selbst fleissig am zerstören waren). Je mehr wir uns der Möglichkeit eines Aufstands zu nähern scheinen, je greifbarer diese Möglichkeiten werden, desto mehr scheinen sich die Anarchisten anscheinend nicht mehr für den Aufstand interessieren zu wollen. Und dies gilt ebenso sehr für jene, die sich darin verlieren, die der Rolle einer sterbenden Linken wiederaufzugreifen, wie für jene, die dabei sind, sich in irgendeiner Ideologie des bewaffneten Kampfes einzuschliessen. Aber lasst uns kurz klarstellen, was wir darunter verstehen, wenn wir von aufständischen Perspektiven und von Aufstand sprechen. Es geht dabei gewiss nicht um eine blosse Multiplizierung der Anzahl Angriffe, und noch weniger, wenn sie das exklusive Terrain der Anarchisten mit ihren Fronten zu werden (wollen) scheinen. Viel mehr als ein einmaliges Duell mit dem Staat, ist der Aufstand der vielfache Bruch mit der Zeit, mit dem Raum und mit den Rollen der Herrschaft, ein gezwungenermassen gewaltsamer Bruch, der zum Beginn einer Subversion der sozialen Verhältnisse werden könnte. In diesem Sinne ist der Aufstand vielmehr eine soziale Entfesselung, die die schlichte Tatsache der Generalisierung der Revolte und der Unruhen übersteigt und in seiner Negation bereits den Beginn einer neuen Welt trägt, oder diesen zumindest in sich tragen müsste. Er ist vor allem die Präsenz jener utopischen Spannung, die fähig ist, nach dem grossen Zerstörungsfest einige Abstützpunkte gegen die Rückkehr zur Normalität und die Wiedereinrichtung der sozialen Rollen zu bieten. Es sei also klargestellt, dass der Aufstand nicht nur eine Sache der Anarchisten ist, auch wenn unser Beitrag, unsere Vorbereitung, unsere aufständischen Perspektiven ohne den geringsten Zweifel wichtig sind und in Zukunft vielleicht sogar entscheidend werden könnten, um die Entfesselung der Negation in eine befreiende Richtung zu stossen. In einer Welt, die täglich instabiler wird, müssten diese schwierigen Fragen wieder in Vordergrund treten, a priori auf sie zu verzichten, um sich in irgendeinem identitären Ghetto einzuschliessen, während man die Illusion kultiviert, „Stärke“ durch kollektive Sigel und die „Vereinigung“ der zum Angriff bereiten Anarchisten zu entwickeln, wird hoffnungslos zur Negation jeglicher aufständischen Perspektive.
Auf die Welt der Fronten und der Sigel zurückkommend, könnte man zum Beispiel die obligatorischen Referenzen auf die gefangengenommenen Gefährten als ein Vorzeichen für die bevorstehende Einschliessung in einem autoreferenziellen Rahmen verstehen. Es scheint, dass Gefährten, die einmal vom Staat verhaftet wurden, nicht mehr Gefährten wie wir alle sind, sondern vor allem „verhaftete“ Gefährten. Die Positionen in dieser bereits schwierigen und schmerzhaften Debatte sind dermassen festgefahren, dass nur noch zwei Optionen übrigbleiben: entweder die absolute Verherrlichung unserer gefangengenommenen Gefährten, oder der absolute Widerwille, der schnell in der Verweigerung endet, der Solidarität noch Körper und Geist zu geben. Hat es noch einen Sinn, zu wiederholen, dass unsere im Knast sitzenden Gefährten nicht über oder unter anderen Gefährten stehen, sondern schlicht und einfach zwischen ihnen? Ist es nicht beängstigend, zu sehen, wie trotz der zahlreichen Kämpfe gegen das Gefängnis, die aktuelle Wendung wieder den Diskurs über die „politischen Gefangenen“ aufgreift, während eine breitere Kampfperspektive gegen das Gefängnis, die Justiz, etc. verlassen wird? Schlussendlich laufen wir Gefahr, das zu vollenden, was der Staat zu erreichen versuchte, als er unsere Gefährten einsperrte: indem wir aus ihnen zentrale, abstrakte und zu verherrlichende Referenzpunkte machen, werden sie von der Gesamtheit des sozialen Krieges isoliert. Anstatt nach Wegen zu suchen, um jenseits der Mauern Verbindungen von Solidarität, Affinität und Komplizenschaft zu fördern, indem alles radikal ins Innere des sozialen Krieges gestellt wird, beschränkt sich die Solidarität darauf, am Ende eines Bekennerschreibens Namen zu zitieren. Dies generiert ausserdem einen ziemlichen Teufelskreis ohne allzu viele Perspektiven, eine Überbietung von an andere „gewidmeten“ Angriffen, anstatt die Stärke in sich selbst und in der Wahl des Wann, Wie und Wieso des Intervenierens in die gegebenen Bedingungen zu finden.
Doch die Logik des bewaffneten Kämpfertums ist unversöhnlich. Einmal in Gang gesetzt, scheint es nur noch wenig daran zu rütteln zu geben. Alle, die ihm nicht beitreten oder ihn nicht verteidigen werden mit Gefährten gleichgestellt, die weder handeln noch angreifen wollen, die die Revolte den Berechnungen und den Massen unterordnen, die nur warten wollen und den Impuls ablehnen, hier und jetzt das Pulverfass zu entzünden. In dem verzerrenden Spiegel wird die Zurückweisung der Ideologie des bewaffneten Kampfes zur Zurückweisung des bewaffneten Kampfes an sich. Selbstverständlich gibt es nichts so falsches wie das, doch es gibt keine Ohren mehr, die das hören wollen, der Raum zur Diskussion ist verschlossen. Alles reduziert sich darauf, in pro und kontra Blöcken zu denken, und der Weg, der unserer Meinung nach am interessantesten ist, jener der Entwicklung von aufständischen Projektualitäten, wird endgültig beiseite geschoben. Zur grossen Freude der formellen Libertären und der Pseudo-Radikalen sowie der repressiven Kräfte, die nichts anderes als die Trockenlegung dieses Sumpfes wollen.
Denn wer will schon heute noch über Projektualitäten diskutieren, wenn der einzige Rythmus, der dem Kampf gegeben wird, die Summe der Angriffe wurde, zu denen sich auf dem Internet bekannnt wurde? Wer ist noch auf der Suche nach einer Perspektive, die mehr will als das blosse Erwidern einiger Schläge? Und, um Missverständnisse zu vermeiden, sei hier widerholt, dass es notwendig ist, hier und jetzt zuzuschlagen, und dies mit allen Mitteln, die wir für angebracht und gelegen halten. Doch die Herausforderung, eine Projektualität zu entwickeln, die versuchen will, aufständische Situationen zu entfesseln, auszuweiten oder zu vertiefen, fordert viel mehr als die blosse Fähigkeit, Schläge auszuteilen. Es fordert die Entwicklung eigener Ideen und nicht die Wiederholung von dem, was andere sagten; die Kraft, eine wirkliche Autonomie in Sachen Kampferfahrungen und Fähigkeiten zu entwickeln; die langwierige und schwierige Suche nach Affinitäten und nach der Vertiefung der gegenseitigen Kenntnis; eine gewisse Analyse der sozialen Verhältnisse, in denen wir uns bewegen; den Mut, Hypothesen für den sozialen Krieg zu formulieren, um nicht mehr hinter den Fakten herzurennen, oder hinter uns selbst. Es fordert schliesslich nicht nur die Fähigkeit, gewisse Methoden anwenden zu können, sondern vor allem Ideen über das Wie, Wo, Wann und Wieso sie zu benutzen, und auch dies noch in einer notwendigen Verflechtung mit einer ganzen Palette von anderen Methoden. Ansonsten werden nicht mehr Anarchisten, sondern bloss eine Reihe von ziemlich tristen und beschränkten Rollen übrig bleiben: Propagandisten, Besetzer, bewaffnete Kämpfer, Enteigner, Schreiber, Randalierer, Unruhestifter, und so weiter. Nichts wäre schmerzlicher, als uns so sehr entwaffnet vor der Möglichkeit des bevorstehenden sozialen Gewitters wiederzufinden, dass jeder nur über eine einzige Spezialität verfügt. Nichts wäre unangenehmer als in explosiven sozialen Umständen feststellen zu müssen, dass sich die Anarchisten zu sehr mit ihrem kleinen Garten beschäftigen, um fähig zu sein, wirklich zur Explosion beizutragen. Nichts hätte mehr den bitteren Geschmack von versäumten Gelegenheiten, als wenn wir durch den exklusiven Fokus auf das identitäre Ghetto davon absehen würden, unsere Komplizen im sozialen Sturm zu entdecken, durch geteilte Ideen und Praktiken mit anderen Rebellen Verbindungen zu schmieden, mit allen Formen der mediatisierten Kommunikation und der Repräsentation zu brechen, um den Raum für eine wirkliche Gegenseitigkeit zu öffnen, die sich allergisch gegenüber jeglicher Macht und Herrschaft verhält.
Doch wie immer weigern wir uns, zu verzweifeln. Wir wissen, dass noch immer viele Gefährten in einem Raum und einer Zeit, in denen jegliches politische Spektakel konsequent verbannt wird, auf der Suche nach Möglichkeiten sind, um den Feind zu treffen und durch die Verbreitung von anarchistischen Ideen und Kampfvorschlägen Verbindungen mit anderen Rebellen aufzubauen. Es ist wahrscheinlich der schwierigste Weg, denn es wird nie eine Anerkennung für ihn geben. Weder von Seiten des Feindes, noch von Seiten der Massen und aller Wahrscheinlichkeit nach auch nicht von Seiten anderer Gefährten und Revolutionären. Doch wir tragen in uns eine Geschichte, eine Geschichte, die uns mit all den Anarchisten verbindet, die hartnäckig dabei bleiben, sich zu weigern, sich einbinden zu lassen, sei es in die „offizielle“ anarchistische Bewegung oder in ihren Reflex des bewaffneten Kämpfertums. Mit jenen, die dabei bleiben, sich zu weigern, die Verbreitung unserer Ideen von der Art und Weise loszulösen, auf die sie verbreitet werden, und auf diese Weise versuchen, jegliche politische Mediation zu verbannen, einschliesslich dem Bekennerschreiben. Mit jenen, die wenig Interesse daran haben, zu wissen, wer dies oder das getan hat, sondern es in die eigene Revolte, in die eigene Projektualität mitaufnehmen, die sich in der einzigen Verschwörung entfaltet, die wir wollen: jene der rebellischen Individualitäten für die Subversion des Bestehenden.
20. November 2011